XII

[79] Vor dem Beginn des Feldzuges hatte Rostow einen Brief von seinen Eltern bekommen, in welchem sie ihn kurz von Nataschas Krankheit und von der Aufhebung ihrer Verlobung mit dem Fürsten Andrei benachrichtigten (als Erklärung dafür gaben sie ihm Nataschas Absage an) und ihn von neuem baten, den Abschied zu nehmen und nach Hause zu kommen. Als Nikolai diesen Brief empfangen hatte, machte er keinen Versuch, den Abschied oder einen Urlaub zu erhalten, sondern schrieb seinen Eltern zurück, er bedaure sehr Nataschas Krankheit und die Aufhebung ihrer Verlobung und werde alles mögliche tun, um den von ihnen geäußerten Wunsch zu erfüllen. An Sonja schrieb er besonders.

»Angebetete Freundin meiner Seele!« schrieb er. »Nichts als die Ehre könnte mich von der Rückkehr nach dem Gut zurückhalten. Aber jetzt, vor dem Beginn des Feldzuges, würde ich mir nicht nur vor allen meinen Kameraden, sondern auch vor mir selbst entehrt vorkommen, wenn ich meiner Pflicht und Vaterlandsliebe mein eigenes Glück vorzöge. Aber dies ist die letzte Trennung. Sei überzeugt, daß ich sofort nach Beendigung des Krieges, wenn ich dann noch am Leben bin und Du mich noch liebst, alles aufgeben und zu Dir eilen werde, um Dich auf immer an mein heißes Herz zu drücken.«

Und wirklich war es nur die Eröffnung des Feldzuges, was Rostow zurückhielt und ihn hinderte, seinem Versprechen gemäß heimzukehren und Sonja zu heiraten. Der Herbst in Otradnoje[79] mit der Jagd und der Winter mit dem Weihnachtsfest und mit Sonjas Liebe eröffneten ihm eine Perspektive auf stille, ländliche Freuden und auf ein ruhiges Leben, Dinge, die er früher nicht gekannt hatte und die jetzt für ihn etwas Lockendes hatten. »Was will ich mehr?« dachte er. »Eine prächtige Frau, Kinder, eine gute Meute Hetzhunde, zehn, zwölf Koppeln flinke Windhunde, die Wirtschaft, die Nachbarn, die Ämter der ländlichen Selbstverwaltung, zu denen man sich wählen lassen kann ...« Aber jetzt war Krieg, und er mußte beim Regiment bleiben. Und da das nun einmal notwendig war, so war Nikolai Rostow, wie das in seinem Charakter lag, auch mit diesem Leben zufrieden, das er beim Regiment führte, und verstand es, sich dieses Leben angenehm zu machen.

Nachdem Rostow, von seinen Kameraden freudig begrüßt, von seinem Urlaub zurückgekehrt war, wurde er abkommandiert, um Remonten zu holen, und brachte aus Kleinrußland vorzügliche Pferde mit, die ihm selbst viel Freude machten und ihm Lob von seiten seiner Vorgesetzten eintrugen. In seiner Abwesenheit war er zum Rittmeister befördert worden, und als sein Regiment mit verstärktem Bestand auf Kriegstauglichkeit gebracht wurde, erhielt er wieder seine frühere Eskadron.

Der Feldzug begann; das Regiment rückte nach Polen; es wurde doppelter Sold bezahlt; neue Offiziere, neue Mannschaften, neue Pferde trafen ein, und, was die Hauptsache war, es verbreitete sich jene angeregte, heitere Stimmung, die den Anfang eines Krieges zu begleiten pflegt; und Rostow, der sich seiner bevorzugten Stellung im Regiment bewußt war, gab sich ganz den Vergnügungen und Interessen des Soldatenlebens hin, wiewohl er wußte, daß er früher oder später von ihnen werde Abschied nehmen müssen.

Die Truppen zogen sich aus allerlei komplizierten Gründen[80] politischer und strategischer Art von Wilna zurück. Jeder Schritt dieses Rückmarsches wurde im Generalstab von einem vielverschlungenen Spiel der Interessen, Erwägungen und Leidenschaften begleitet. Aber für die Husaren des Pawlograder Regiments war dieser ganze Rückmarsch, der in der besten Jahreszeit und mit hinlänglichem Proviant stattfand, die einfachste und vergnüglichste Sache, die sich nur denken ließ. In gedrückter Stimmung sein, sich beunruhigen, Intrigen spinnen, das konnten nur die Herren im Hauptquartier; aber in der Armee selbst sorgte man sich gar nicht, wohin man marschierte und warum. Wenn man bedauerte, daß es wieder weiter zurückging, so geschah es nur deshalb, weil man von einem Quartier, in das man sich eingelebt hatte, oder von einer hübschen Pani scheiden mußte. Und wenn wirklich einmal einem der Gedanke durch den Kopf ging, daß die Sache schlecht stehe, so gab sich der Betreffende, wie es sich für einen braven Soldaten gehörte, Mühe heiter zu sein und nicht an den allgemeinen Gang der Dinge zu denken, sondern nur an das, was ihm am nächsten lag. Am Anfang standen sie vergnügt in der Nähe von Wilna, knüpften Bekanntschaften mit den polnischen Grundbesitzern an und erwarteten und überstanden Musterungen durch den Kaiser und andere hohe Vorgesetzte. Dann kam Befehl, nach Swenziany zurückzugehen und den Proviant, den sie nicht mitnehmen konnten, zu vernichten. Swenziany war den Husaren später nur deswegen denkwürdig, weil es ein »besoffenes Lager« gewesen war, wie es in der ganzen Armee genannt wurde, und weil dort viele Beschwerden über die Truppen eingelaufen waren, da sie den Befehl, Proviant zu requirieren, dazu benutzt hatten, als Proviant auch Pferde, Equipagen und Teppiche der polnischen Pans wegzunehmen. Rostow behielt Swenziany deswegen im Gedächtnis, weil er gleich an dem Tag, an dem sie in dieses[81] Städtchen eingerückt waren, den Wachtmeister seines Dienstes hatte entheben müssen und mit den Leuten seiner Eskadron, da sie sämtlich betrunken waren, nicht hatte zurechtkommen können; sie hatten sich nämlich ohne sein Wissen fünf Fässer alten Bieres angeeignet. Von Swenziany marschierten sie weiter und weiter zurück an die Drissa, und nun gingen sie auch von der Drissa wieder zurück und näherten sich bereits den Grenzen des eigentlichen Rußlands.

Am 13. Juli kamen die Pawlograder zum erstenmal dazu, an einem ernsten Gefecht teilzunehmen.

Am 12. Juli, dem Tag vor dem Kampf, brach am Abend ein furchtbares Gewitter mit Sturm und Hagel los. Der Sommer des Jahres 1812 war überhaupt auffällig reich an Gewittern.

Zwei Eskadronen der Pawlograder biwakierten mitten auf einem Roggenfeld, das schon in Ähren gestanden hatte, dann aber vom Vieh und von den Pferden vollständig niedergetreten war. Der Regen goß in Strömen, und Rostow saß mit einem jungen Offizier, namens Iljin, den er protegierte, unter einem eilig aufgeschlagenen Zelt. Ein Offizier ihres Regiments, mit einem langen, durch das Backenhaar verlängerten Schnurrbart, war zum Stab geritten, auf dem Rückweg vom Regen überrascht worden und kehrte nun bei Rostow ein.

»Ich komme vom Stab, Graf«, sagte er. »Haben Sie von Rajewskis Heldentat gehört?«

Der Offizier begann Einzelheiten von dem Kampf bei Saltanowka zu erzählen, die er beim Stab gehört hatte.

Rostow saß mit eingezogenem Hals da, an dem ihm das Wasser entlanglief, rauchte eine Pfeife und hörte unaufmerksam zu, wobei er mitunter zu dem jungen Offizier Iljin hinblickte, der sich dicht an ihn drückte. Dieser Offizier, ein blutjunger Mensch, erst sechzehn Jahre alt, war kürzlich in das Regiment[82] eingetreten und stand jetzt zu Nikolai in demselben Verhältnis, in welchem Nikolai sieben Jahre vorher zu Denisow gestanden hatte. Iljin suchte seinen Gönner Nikolai in allen Stücken zu kopieren und war in ihn verliebt wie ein Mädchen.

Der Offizier mit dem langen Schnurrbart, namens Zdrzinski, erzählte in hochtrabenden Ausdrücken, wie der Damm von Saltanowka zu einem Thermopylai der Russen geworden sei, und wie auf diesem Damm der General Rajewski eine Heldentat ausgeführt habe, die sich denen des Altertums würdig zur Seite stellen könne. Rajewski habe seine beiden Söhne im heftigsten Kugelregen auf den Damm geführt und sei Schulter an Schulter mit ihnen zum Angriff vorgegangen. Rostow hörte die Erzählung an, äußerte aber kein Wort, als ob er Zdrzinskis Enthusiasmus teile, sondern machte im Gegenteil eine Miene, als fühle er sich durch diese Erzählung unangenehm berührt, beabsichtige aber nicht, etwas darauf zu erwidern. Rostow wußte von den Feldzügen der Jahre 1805 und 1807 her aus eigener Erfahrung, daß diejenigen, welche Kriegsereignisse erzählen, immer lügen, wie denn auch er selbst als Erzähler gelogen hatte; und zweitens hatte er soviel Sachkenntnis, um zu wissen, daß im Krieg alles ganz anders zugeht, als wir es uns vorstellen und erzählen können. Und darum gefiel ihm Zdrzinskis Erzählung nicht; auch mißfiel ihm Zdrzinski selbst, der mit seinem über die Backen verlängerten Schnurrbart nach seiner Gewohnheit sich tief über das Gesicht dessen beugte, dem er seine Erzählung vortrug, und es ihm so in dem engen Zelt noch enger machte. Rostow blickte ihn schweigend an. »Erstens«, dachte er, »war auf dem Damm, den sie angriffen, gewiß ein solcher Wirrwarr und ein solches Gedränge, daß, wenn Rajewski auch seine Söhne dort in den Kampf führte, dies doch höchstens auf ein Dutzend Menschen wirken konnte, die dicht bei ihm waren; die übrigen konnten gar[83] nicht sehen, wie und mit wem Rajewski da auf dem Damm ging. Aber auch die, die es sahen, konnten darüber nicht sonderlich in Begeisterung geraten; denn was kümmerten sie sich um Rajewskis zärtliche Vatergefühle, wo es sich um ihre eigene Haut handelte? Und ferner, davon, ob der Damm bei Saltanowka genommen wurde oder nicht, hing das Schicksal des Vaterlandes nicht ab, wie uns das von Thermopylai berichtet wird. Also welchen Zweck hatte es, ein solches Opfer zu bringen? Und weiter: wozu nahm er seine Kinder in das Kriegsgetümmel mit hinein? Ich würde meinen Bruder Petja nicht mitnehmen, und selbst diesen Iljin, der kein Angehöriger von mir, aber doch so ein guter Junge ist, würde ich irgendwohin zu stellen suchen, wo ihm nichts passieren kann.« So dachte Rostow, während er Zdrzinskis Erzählung anhörte. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus: auch in dieser Hinsicht besaß er bereits hinlängliche Erfahrung. Er wußte, daß diese Erzählung zur Erhöhung unseres Waffenruhms beitrug, und daß er deshalb tun mußte, als zweifle er nicht an ihrer Richtigkeit und Bedeutsamkeit. So machte er es denn auch.

»Aber das ist nicht mehr zu ertragen«, sagte Iljin, der wohl merkte, daß Rostow an Zdrzinskis Gespräch kein Gefallen fand. »Meine Strümpfe und mein Hemd sind völlig durchnäßt, und unten hat sich eine Lache gebildet. Ich werde gehen und ein Obdach suchen. Es scheint, daß der Regen ein wenig nachgelassen hat.«

Iljin ging hinaus; auch Zdrzinski ritt weg.

Nach fünf Minuten kam Iljin, durch den Schmutz patschend, zum Zelt zurückgelaufen.

»Hurra! Komm schnell, Rostow! Ich habe etwas gefunden! Zweihundert Schritte von hier ist eine Schenke, und von den Unsrigen haben sich schon einige da zusammengefunden. Wenigstens[84] werden wir da trocken werden; Marja Henrichowna ist auch da.«

Marja Henrichowna war die Frau des Regimentsarztes, eine junge, hübsche Deutsche, die der Arzt in Polen geheiratet hatte. Entweder weil er nicht über hinreichende Geldmittel verfügte, oder weil er sich nicht gleich in der ersten Zeit seiner Ehe von seiner jungen Frau trennen mochte, führte der Arzt sie überall bei den Märschen des Husarenregiments mit sich herum, und seine Eifersucht bildete ein beliebtes Thema für die Scherze der Husarenoffiziere.

Rostow warf sich den Mantel um, rief seinem Burschen Lawrenti zu, er solle ihnen trockene Kleidung nachbringen, und ging mit Iljin unter dem leiser gewordenen Regen im Abenddunkel, das mitunter durch ferne Blitze erhellt wurde, bald im Schmutz ausgleitend, bald kräftig hindurchpatschend, nach der Schenke hin.

»Rostow, wo bist du?«

»Hier. Was für starke Blitze!« sagten sie zueinander.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 79-85.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon